Naturheilpraxis - Ausgabe 06/2001
Die Adipositasproblematik
von Karl-Heinz Claus

Die Adipositasproblematik nimmt nahezu den gleichen, ebenfalls konfliktbeladenen Rang ein wie das Rauchen. Übergewicht bietet die Grundlage für eine Fülle von Krankheitsbildern, insbesondere Stoffwechselkrankheiten, die oftmals erst spät zu erkennen sind und zunächst scheinbar wenig Beschwerden bereiten. Deshalb nimmt sich kaum noch jemand Zeit, sich um diese Effekte zu kümmern. Andererseits sind Adipöse – vorausgesetzt, dass sie überhaupt zur Behandlung kommen – geneigt, die Therapie wieder vorzeitig abzubrechen. Der mit ernährungsabhängigen Krankheiten täglich beschäftigte Praktiker wird dabei immer wieder mit der Rückfall-Problematik konfrontiert.
Keine der neuen Erkenntnisse über die Pathogenese der Adipositas kann den übergewichtigen Menschen von der Verantwortung für die Gefährdung seiner Gesundheit freisprechen.
Dabei wurde ein Zusammenhang zwischen dem sozio-ökonomischen Status und dem jeweiligen Körpergewicht festgestellt: Bei Männern, die in einem gewissen Wohlstand leben, ist der Anteil an Übergewichtigen größer als bei Männern mit bescheidenen Lebensverhältnissen. Bei Frauen wurde dagegen Fettleibigkeit im sozio-ökonomisch niedrigerem Status sechsmal häufiger beobachtet als bei Frauen wirtschaftlich-geordneter Verhältnisse. Das ist wohl weniger auf zu üppige Ernährung, sondern auf das Bestreben nach „Schlankheit“ zurückzuführen. Wohlhabende Frauen achten mehr auf ihre Figur. Zu Schlankheit veranlagte Typen sollen auch die Fähigkeit besitzen, übermäßig aufgenommene Nahrungsenergie in Wärme umzuwandeln und diese über die Haut abzugeben. Zu Adipositas disponierte Menschen scheinen diese vorgegebene Stoffwechseleigenschaft nicht zu besitzen.
Aber: Runde Männer leben länger.
Für Männer über 45 ist Untergewicht tatsächlich gefährlicher als geringes Übergewicht. Die schädlichen Auswirkungen von Fettsucht verringern sich auch mit zunehmendem Lebensalter allmählich und mit leichtem Übergewicht (bis zu 10 Prozent) sollen Männer eine höhere Lebenserwartung haben. Auch das gesundheitliche Risiko eines überhöhten Cholesterinspiegels nimmt im hohen Alter ab. Ein in Grenzen gesteigerter Blutdruck kann sich dann auch eher als günstig erweisen. Mäßiges Übergewicht kann somit sogar einen „Schutzfaktor“ darstellen.
Dicke Menschen sollen auch besonders gemütlich sein, fröhlicher als ihre schlanken Zeitgenossen. „Lasst dicke Männer um mich sein“, soll bereits Julius Cäsar gesagt haben. Hektik und Nervosität sollen ihnen fremd sein.
James Levin und seine Kollegen von der Mayo-Klinik in Washington haben sogar herausgefunden, dass manche Menschen ihre schlanke Linie – trotz gesunden Appetits – ihrer inneren Unruhe und Nervosität verdanken. Zu viel zu sich genommene Kalorien werden „verzappelt“. Ruhige Zeitgenossen setzten dagegen diese Kalorien als Fettpölsterchen an. Beachte aber auch: Ein fröhlicher Esser verdaut besser! Ein Beweis für die personifizierte Gemütlichkeit soll das jedoch nicht sein, wie Professor Jürgen Margraf von der Technischen Universität in Dresden feststellte. Das Gegenteil sei der Fall: Übergewichtige würden im Laufe ihres Lebens öfter an psychischen Störungen erkranken. Ob jemand gemütlich sei oder nicht, hänge schließlich sicher nicht von der Figur ab.
Komplikationen aber sind stets schwerwiegend. Man muss zwar nicht hinter jedem respektablen Po einen Risikofaktor erkennen. Es bekommt auch keineswegs jeder Adipöse einen Diabetes mellitus oder ein Hochdruckleiden. Jeder soll sein eigenes optimales Körpergewicht finden, das ihm „Wohlbefinden“ gibt. Schließlich ist ein zufriedener Dicker besser als ein mürrischer Magerer.
Adipositas ist keine Krankheit an sich, sondern ein Symptom, eine schwerwiegende Komplikation für alle Krankheiten. Bei deutlicher Adipositas ist die Entwicklung von Begleitkrankheiten mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, Stoffwechselbefunde und die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems werden verschlechtert. Hypertonie tritt bei Adipösen 3mal häufiger auf als bei Schlanken. Etwa 30 % der Fälle von essentieller Hypertonie sind auf Übergewicht zurückzuführen. Ca. 80% aller Adipösen sind nach Gewichtsreduktion normoton. In vielen Fällen kann die Dosis von Antihypertonika vermindert werden. Nach wie vor bleibt Übergewicht auch ein Risikofaktor für Herzinfarkt. Eine Gewichtszunahme nach dem 18. Lebensjahr soll die Gefahr, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken, erhöhen. Fast 1/3 der jährlichen kardiovaskulären Todesfälle wäre vermeidbar, wenn die Betroffenen normalgewichtig wären. Menschen, die koronargefährdet sind, tun somit gut daran, nicht an Gewicht zuzunehmen.
Übergewicht ist in den westlichen Industrienationen der häufigste manifestationsfördernde Faktor des Typ-2-Diabetes. Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Körpergewicht kontinuierlich an. Selbst eine mäßige Gewichtszunahme erhöht, insbesondere bei Frauen, das Risiko für einen Diabetes mellitus ganz beträchtlich. Bei primären Fettstoffwechselstörungen kann die Adipositas die Konzentration des LDL-Cholesterins weiter verschlechtern. Da die HDL-Cholesterinkonzentration durch andere therapeutische Maßnahmen schlecht beeinflussbar ist, kommt der Gewichtsreduktion bei Adipositas und niedrigem HDL-Cholesterin besondere Bedeutung zu. Auch bei orthopädischen Leiden, bei Arthrosen der Wirbelsäule, der Sprung- und Kniegelenke, wirkt sich Übergewicht sehr nachteilig aus oder kann sogar Ursache der Beschwerden sein. Besonders dann neigen Adipöse vermehrt zu Depressionen und Störungen des Selbstwertgefühls. Nachteilig wird dabei die gesellschaftliche Benachteiligung empfunden, die sich auf jeden Lebensbereich erstrecken kann. Oftmals sind damit schlechtere Karriereaussichten und ein niedrigeres Einkommen verbunden. Im Gegensatz zu früheren Vorstellungen ist die Adipositas jedoch grundsätzlich kein psychosomatisches Leiden. Die beobachteten psychischen Veränderungen sind keine Ursache, sondern überwiegend Folge des Übergewichtes; sie verschwinden nach deutlicher Gewichtsreduktion. Inwieweit Adipositas mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung verschiedener Krebsleiden verbunden ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht definitiv beantwortet werden. Es gibt zahlreiche Studien, die eine derartige Hypothese unterstützen, andererseits aber gibt es mindestens ebenso viele Studien, die diese Korrelation nicht bestätigen. Größere prospektive Studien der jüngeren Zeit zeigen, dass möglicherweise eher bestimmte Zusätze in der Ernährung für die Krebsentstehung verantwortlich sind als das Übergewicht per se.

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