Naturheilpraxis - Ausgabe 07/2002
Kinesiologie
von Erwin Stutz

Kinesiologie hat einen weltweiten Siegeszug angetreten. Keine andere ganzheitliche Methode hat sich in den letzten 20 Jahren so rasant verbreitet. Und doch beherrscht immer noch viel Missverständliches die Diskussion. Selbst Kinesiologen liegen zumindest chronologisch daneben wenn sie schreiben: "Ihre Anfänge liegen in den 60er Jahren, als der amerikanische Chiropraktor George Goodheart auf der Basis der Akupunkturlehre und des Wissens um die Energieleitbahnen (Meridiane) erkannte, dass ein Zusammenhang zwischen spezifischen Muskeln, Meridianen und Organen sowie seelischen Zuständen besteht." (FDH Informationsschrift zur Tätigkeit von Heilpraktikern 2001)

Kinesiologisch hat nichts mit chinesisch zu tun, der Begriff Kinesiologie kommt aus dem griechischen – logisch – Kinesis die Bewegung, wie Kinetik, Kino, also die Lehre von der Bewegung. Besser vielleicht, es geht um die Beweglichkeit, welche den ungehinderten Fluss der Lebensenergie ermöglicht.

Am Besten verstehen wir die Kinesiologie wenn wir betrachten, wie alles anfing. Versierte Chiropraktiker mögen mir aber trotzdem verzeihen, wenn ich nicht bei Kendall und Kendall in den 30er Jahren beginne, sondern Anfang der 60er Jahre bei George Goodheart einem Chiropraktor der über die strukturell knöcherne Korrektur von Fehlstellungen hinausging und sich auch muskulären Dysbalancen widmete. Er machte die Beobachtung, dass die meisten schmerzhaften Verkrampfungszustände von Muskeln nicht das eigentliche Problem sind, sondern sie entstehen sekundär als Folge der Schwäche der Antagonisten. Abb. 1 - siehe Naturheilpraxis 07/2002

Verständlich wird die Beobachtung, wenn wir uns das System einer Pendeltür vorstellen. Sie wird von zwei Federn gehalten. Hat eine Feder nicht mehr genug Spannung, ist die Pendeltür in Ruhestellung nicht in der Mitte, sie verzieht sich ständig in Richtung stärkere Feder. Der entsprechende Muskel verspannt, verkrampft und schmerzt. Durch solche Beobachtungen verließ er das Terrain der chiropraktischen Grundprämisse. Die Wirbelsäule und ihre Störungen sind primär und öffnen sich einer ganzheitlichen Sichtweise in der sowohl Pischingers System der Grundregulation als auch psychosomatische Aspekte ihren Platz erhielten. Der Einfluss seines Vaters, eines Chirotherapeuten und Osteopathen mit naturheilkundlich ganzheitlichem Denken, war hier sicherlich mitentscheidend. Daraus entstand das Schema seiner Betrachtungen jedes gesundheitlichen Problems der berühmten Triad of Health. Abb. 2 - siehe Naturheilpraxis 07/2002

Im Gleichgewicht ist ein Mensch, wenn alle drei Seiten Struktur (Bewegungsapparat), Stoffwechsel (alle biochemischen Vorgänge im Körper) und Psyche (Gedanken und Gefühle) harmonisch zusammenarbeiten. Therapeutisch zeigt uns die Triad of Health auch, dass wir das jeweilige Problem auf drei Seiten angehen können.

Ich erinnere mich an eine Dirigentin, die ein Brustwirbelproblem hatte und nach ein paar Sitzungen gefragt hatte, ob ich an ihren Stimmbändern gearbeitet hätte, sie könne jetzt das hohe C singen, obwohl ihr Musiklehrer ihr einst versicherte, dass ginge bei ihr nie. Ich musste ihr gestehen, dass ich zwar gern Musik höre aber ob gerade das hohe C oder A gesungen werden, kann ich nicht sagen. Aber da sich das WS-Problem über Lösung der emotionalen Blockade beheben ließ könnte ich mir gut vorstellen, dass sich strukturell im Kehlkopf oder Kieferbereich etwas geändert hat.

Als Chiropraktiker konzentrierte sich Goodheart aber weiterhin auf das Aufspüren von Muskeldysbalancen mit besonderem Augenmerk auf den schwachen Muskel, welchen er durch Massage von bestimmten Triggerpunkten z.B. der Ursprung/Ansatztechnik zu stärken versuchte. Dabei war für ihn die Wiederentdeckung von gleich zwei Reflexpunktschemata aus den 30er Jahren ein Glücksfall.

Die sog. neurolymphpatischen Reflexpunkte sind von dem Osteopathen Chapman als Therapieschema entwickelt worden.

Chapman stellt dabei hauptsächlich einen Zusammenhang zwischen einem Organ und einem bestimmten Reflexpunkt her. Dieses System wird übrigens auch heute noch als selbständige Methode genutzt. Im Bayerischen Heilpraktiker 2/2001 schreibt Dr. Klaus Weber von der Universität Tübingen dazu: "Chronische krankhafte Veränderungen innerer Organe mit lymphatischen Belastungen führen zu einer gleichsinnigen lymphatischen Verquellung der dazugehörigen Reflexzonen". In der Kinesiologie werden die Chapman-Punkte beschrieben als: Reflexpunkte zur Stimulation von Autoregulationsmechanismen im interstitiellen Raum mit lymphatischer Entschlackung, dadurch Behandlung sowohl von inneren Organen, hormoneller und vegetativer Regulation als auch der Muskulatur selbst. Goodheart stellte die Verbindung von Reflexpunkt, Organ und Muskel her.

Das zweite Schema sind die sog. neurovaskulären Reflexpunkte. Abb. 4 - siehe Naturheilpraxis 07/2002

Ein Forscherteam um Dr. Benett beobachtete Ende der 20er Jahre durch ein überdimensionales Fluoroskop, dass die Blutzufuhr zu bestimmten Organen durch Halten spezieller Punkte (die sich hauptsächlich am Kopf befinden) beeinflusst wurde. Dr. Benett starb früh an der hohen Strahlendosis.

In der Kinesiologie werden die neurovaskulären Reflexpunkte auf den Stirnbeinhöckern, die sog. ESR (Emotional Stress Releasing) Punkte bevorzugt zur Ablösung von emotional belasteten Erlebnissen, aber auch direkt bei Ängsten und Phobien erfolgreich benutzt. Heute weiß man: das Halten der NV-Punkte stimuliert die Produktion von Neurotransmittern in den Synapsen des Gehirns.

Goodhearts Verdienst war es, die Ergebnisse aus den Schubladen der Vergessenheit zu ziehen und auch hier die entsprechenden Muskeln zuzuordnen.

Er hatte nun ein unglaublich effektives aber relativ einfaches Instrument über den Muskeltest den schwachen Muskel zu finden und ihn mit den verschiedenen Reflexpunktkorrekturen ins Gleichgewicht zu bringen.
In kurzer Zeit verbreitete sich in den USA die Methode unter Osteopathen und Chiropraktikern.
Schon 1968 arbeitete man zusätzlich an der Frage, welche Ernährungsdefizite hat der schwache Muskel. Vitamine, Mineralien, Spurenelemente wurden getestet und bestimmten Muskeln zugeordnet.

Erst 1970 wurde das Wissen der traditionellen chinesischen Medizin mit einbezogen und eine Verbindung von Muskeln, Organen und Meridianen hergestellt. Womit sich die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten vervielfältigten. Nicht zuletzt dadurch wurde die psychisch-emotionale Seite des Dreiecks aus ihrem Schattendasein geholt, da bekanntlich jedem Meridian auch eine bestimmte emotionale Entsprechung zugeordnet wird. Dass die Niere etwas mit Angst und die Leber mit Wut zu tun hat, ist inzwischen Allgemeingut geworden. Chiropraktoren tun sich aber immer noch schwer, Haltung als seelische Einstellung zu interpretieren. Dabei hat Kinesis und (E)motion die gleiche Bedeutung nur einmal aus dem Griechischen und dann aus dem Latein. Was bewegt uns? So ist es nicht verwunderlich, dass ein Schwerpunkt der professionellen Kinesiologie, das Aufspüren von Hintergründen einer Entgleisung, einem aus dem Gleichgewicht geraten, eben auch über die psychische Seite der Triad of Health gesucht wird.

Eine Zäsur in der Kinesiologie bedeutet das Jahr 1973, für das Verständnis der heutigen Kinesiologie ein wichtiges Datum.
Bisher arbeiteten Akademiker und Nichtakademiker in der Kinesiologie fast reibungslos zusammen. Aber je weiter die Forschungen in Anatomie und Physiologie und vor allem auch in der Gehirnforschung vordrangen, desto häufiger mehrten sich die Stimmen: Kinesiologie sei nur etwas für Ärzte. Demgegenüber standen schon relativ viele Laien, die im Gegenteil forderten, dass das Basiswissen der Kinesiologie für alle Gesundheitsberufe zugänglich gemacht werden sollte. Goodheart, als ganzheitlich denkender Mensch war jede Trennung oder Abgrenzung zuwider. Er gab einem seiner engsten Mitarbeiter den Rat: "Wenn Du ein Buch für Laien willst, dann schreib es."

Und so entstand "Touch for Health" von John F. Thie. Inzwischen in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Das war der eigentliche Siegeszug der Kinesiologie. 42 Muskeltests und ihre Korrekturmöglichkeiten werden beschrieben, wobei für ein sog. Balancieren, 14 Muskeln entsprechend der 12 Meridiane und 2 Gefäße genügen. Für den Therapeuten, sei er HP oder Arzt, kann es erforderlich sein, auch den Extensor pollicis longus (langer Daumenstrecker) oder den Flexor digitorum profundus (tiefer Fingerbeuger) bei speziellen Handproblemen zu testen. Dass es möglich ist über die sog. Surrogat-Testung auch einen nicht fassbaren Muskel zu testen z.B. die wichtigen Augenmuskeln, möchte ich nur erwähnen.

Jetzt versteht man vielleicht, warum die Kinesiologie so unübersichtlich geworden ist. Der Augenspezialist konzentriert sich mehr auf Augenmuskelschwächen und deren Einfluss auf Körper und Geist, der Handchirurg baut die Kinesiologie aus und entdeckt Zusammenhänge nicht nur zwischen den einzelnen Handmuskeln und Gelenken, sondern auch noch den Sehnen, Bändern und Faszien. Dann gibt es den Musikkinesiologen, den Sportkinesiologen und die Psychokinesiologie, inzwischen auch das Kyberkinetische Modell – nicht für den, der seine Rechnung noch mit der Hand schreibt.

Praktisch jede Kombination mit herkömmlichen Diagnose – und Therapieformen ist denkbar, so hat sich in meiner Praxis die Verbindung Augendiagnose und Kinesiologie sehr bewährt.
Daniel Whiteside und Gordon Stokes als Verhaltensgenetiker bereicherten die Kinesiologie, indem sie Verbindungen zwischen Körpermerkmalen (Physiognomie) und entsprechenden Verhaltensweisen einbrachten.

Und es bleibt eine gemeinsame Basis: Der Muskeltest.

Für das Verständnis des Muskeltest müssen wir noch die Stressdefinition nach Seleye einfügen.

"Stress ist die Summe aller Adaptionsvorgänge und Reaktionen von Körper und Geist, mit denen ein Lebewesen auf seine Umwelt und die von innen und außen kommenden Anforderungen reagiert."
Gelingt die Anpassung nicht, entsteht chronischer Stress, der u. a. eine Änderung der Muskelspannung bewirkt und damit testbar wird.

Unsere hormonelle Stressverarbeitung birgt dabei eine besondere Gefahr durch unsere moderne Lebensweise. So vergiften wir uns nicht nur exogen durch schlechte Luft, Nahrung, Wasser etc., sondern immer öfter endogen durch psychischen Stress, denn das Stresshormon Kortisol der Nebennierenrinde muss wieder abgebaut werden, oder früher konnten wir das Adrenalin durch Kampf oder Flucht verbrennen, heute bleiben wir buchstäblich darauf sitzen und der Muskel testet schwach.

Wie sieht nun der kinesiologische Muskeltest aus? Wir bringen einen bestimmten Muskel in seine kontrahierte Position und isolieren ihn soweit als möglich von seinen Nachbarn. Wir zeigen der Testperson den Bewegungsablauf wir sagen halten und bauen innerhalb von ca. 2 Sekunden den Druck auf etwa 1 bis 2 kpond. Dadurch wird nicht die Muskelstärke getestet, sondern die Qualität des Muskel-Gehirn-Funktions-Kreises. Ist das Leitsystem in Ordnung, hält der Muskel, sonst gibt er nach. Wir können nun einen sog. schwachen Muskel mit all unseren verschiedenen Kenntnissen stärken. Kinesiologisch also durch Manipulation der verschiedenen Reflexpunktmodelle durch Meridianausgleichung durch Nahrungsmittelergänzung etc. aber auch durch alle anderen Ihnen zur Verfügung stehenden Therapien.

Diesen Muskeltest als Biofeedback-Instrument können wir natürlich auch benützen, um energetische Defizite im Körper zu lokalisieren, Herde und Allergien aufspüren und die Auswahl aus den in Frage kommenden Medikamenten eingrenzen; Fragen zu stellen z.B. ist es der Blinddarm oder die Bauhi'nsche Klappe. Aber um einen verlässlichen Muskeltest machen zu können, muss die Testperson 100 %ig testbar sein und das kann zwei Minuten, aber auch zwei Stunden Arbeit bedeuten, die sich aber meist lohnen, weil das Testhindernis oft ein unbewusstes Sabotageprogramm bedeutet, dessen Aufdeckung erst Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist. Gar nicht selten steht z.B. die Frage im Raum: "Will ich überhaupt gesund werden?" und dahinter zwei bedenkenswerte Überlegungen: "Was vermeide ich mit der Krankheit oder was für einen Gewinn habe ich?"

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