Sanum Post - Ausgabe 60/2002
Zivilisationskrankheit Stress
von HP Nancy Naujocks

„Jeder zweite Deutsche leidet unter Stress“. Ein Artikel mit diesem Titel aus der Tagespresse machte mich nachdenklich.

Ist es nicht tatsächlich so, daß ein großer Anteil unserer Patienten Stresssymtomatik aufweist? Immer mehr kommen mit diffusen Problemen, die auf den ersten Blick gar nicht so recht zuzuordnen sind. Bei genauerer Beobachtung wird dann doch die Diagnose Stresssymptomatik klar. Der eine bewegt sich hektisch, spricht schnell, verhaspelt sich, schaut 5x in der Minute auf die Uhr und möchte eigentlich schon wieder draußen sein, bevor er sich hingesetzt hat. Die Atmung ist rasch und oberflächlich, er kann nicht ruhig sitzen oder ist so angespannt, daß er verkrampft wirkt. Die Bewegungen sind meist unharmonisch und/oder fahrig.

Der andere sitzt völlig in sich selbst versunken und seufzt vor sich hin. Die Atmungsfrequenz ist vermindert, die Atmung selbst geräuschvoll, der Muskeltonus schlaff, die Haltung gebeugt. Der Patient macht einen müden, erschöpften Eindruck. Wenn wir unsere Patienten dahingehend beobachten, kann man dem Zeitungsartikel durchaus recht geben.

Definition
Wir benutzen das Wort Stress recht häufig. Was aber ist Stress denn wirklich? Der Ausdruck kommt aus dem Englischen und bedeutet Druck, Belastung, Spannung.

Ich habe in verschiedenen Ausgaben des Brockhaus nachgeschlagen. Interessanterweise fand ich in der Ausgabe von 1951 den Begriff überhaupt nicht verzeichnet. 1978 war er in zwei Zeilen folgendermaßen definiert: „Anhaltende körperliche Belastung durch Überbeanspruchung oder schädliche Reize.“ In der Ausgabe von 1993 erstreckt sich der Eintrag auf über 3 Seiten à 2 Spalten.

Der Pschyrembel definiert Stress wie folgt:
„Zustand des Organismus, der durch ein spezifisches Syndrom (erhöhte Sympathicus-Aktivität, vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen, Blutdrucksteigerung u.a.) gekennzeichnet ist, dabei aber durch verschiedenartige unspezifische Reize (Infektionen, Verletzungen, Strahleneinwirkung, aber auch Ärger, Freude, Leistungsdruck) ausgelöst werden kann. Unter Stress kann man auch äußere Einwirkungen verstehen, auf die der Körper nicht in genügender Weise adaptiert ist, z.B. Vergiftungen, Operationen, Schwangerschaft … Folge: Anpassungssyndrom.

Auf diese Folge, nämlich das Anpassungssyndrom möchte ich im weiteren näher eingehen. Hierzu ist es erforderlich, einen kleinen Ausflug ins Endokrinum zu unternehmen.

Stress-Ablauf
Nehmen wir als Beispiel unseren Vorfahren, den Jäger.

Wenn er das Wild gesichtet hatte, so mußten alle Sinne auf Jagd ausgerichtet werden. Die Sichtung des Wildes war also der Stressfaktor, der auf den Hypothalamus einwirkte.

Nun mußte ein Mechanismus in Gang kommen, der dem Jäger die optimale Kraftausnutzung zur Verfolgung seiner Beute gewährleistete. Das heißt, kraftraubende Vorgänge im Körper wurden reduziert zugunsten der Ausdauer. Durch CRH wurde der Hypophysenvorderlappen aktiviert, um ACTH auszuschütten. Dies wiederum veranlaßte die NNR zur verstärkten Aktivität und Kortisol- Ausschüttung. Die Folge davon war: Der Herzschlag erhöhte sich, die Kontraktionskraft des Herzmuskels wurde verstärkt, die Atmung erhöhte sich in Frequenz und Tiefe. Dadurch wurde der Muskulatur und dem Gehirn mehr Sauerstoff zur Verfügung gestellt. Kurzfristig wurden die Glucose-Reserven angezapft, es wurde mehr Glucose an die Muskulatur abgegeben. Durch all diese Vorgänge wurden erhöhte Aktivitäten ermöglicht. Wasser wurde im Gewebe zurückgehalten, um eine Austrocknung zu verhindern.

Gleichzeitig wurden Vorgänge wie Verdauung, Nierentätigkeit, Sexualtrieb und Fortpflanzung auf ein Minimum reduziert, um die letzten Reserven aktivieren zu können.

Hatte der Jäger nun sein Wild erlegt bzw. war erfolgreich vor seinem Angreifer davongelaufen, so waren durch körperliche Anstrengung die verschiedenen Hormonausschüttungen verbraucht, vom Hypothalamus kam kein neuer Stress-Alarm mehr, und somit erfolgte auch keine weitere Ausschüttung von Katecholaminen. Nach einer kurzen Erholungsphase stellte sich der Körper wieder auf Normalbetrieb um.

In unserer heutigen Zeit wirken Stressfaktoren verschiedener Natur auf unseren Hypothalamus ein. Da wir aber keinem Wild mehr nachjagen, sprich, keine Notwendigkeit zu Verfolgungs- oder Fluchtaktionen besteht, werden die verschiedenen Sekretionen nicht mehr verbraucht und wirken als Langzeitfaktoren auf unseren Organismus. Es kommt sozusagen zur „Überladung“ des Systems. Die oben beschriebenen – als kurzfristige Maßnahmen gedachten – Umstellungen bleiben bestehen und wirken weiter auf den Organismus ein. Puls- und Atemfrequenz sowie die Gluconeogenese bleiben erhöht, Wasserretentionen im Gewebe bleiben manifest, Verdauungsvorgänge, Nierentätigkeit und Fortpflanzung sind weitgehend reduziert. Die Folge: Der Organismus geht in die Krankheit.

Da der Körper jedoch über einige Kompensationsmöglichkeiten verfügt, dauert diese Phase nicht allzu lange. Um ein „Durchbrennen“ des Systems zu verhindern, schaltet der Organismus nun auf „Sparflamme“ – die Stufe 1 des Anpassungssyndroms. Alle Vorgänge sind nun reduziert, um dem Körper die Möglichkeit zur Erholung zu geben.

Reicht diese Ruhepause nicht aus, um den Normalzustand wieder herzustellen, schaltet der Organismus nun auf volle Kraft, um die zu viel produzierten Sekrete abzubauen – die Stufe 2 des Anpassungssyndroms.

Schafft es der Organismus nun noch immer nicht, mit diesem enormen Kraftaufwand den Normalzustand wieder herzustellen, geht er in den totalen Erschöpfungszustand, die Chronizität. In dieser Phase treten schwere bis schwerste Störungen bis hin zu irreversiblen und sogar tödlichen Krankheiten auf.

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